ARTIKEL,
VORTRÄGE
Aus: Der politische Raum. Beiträge zu
Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft -
Bruno Meier (Hrsg.) - 1998, Baden - Baden-Verlag
- S. 39-51
Zweckgemeinden statt
Zweckverbände!
Effiziente und
demokratische kommunale Leistungserbringung
dank FOCJ
Reiner
Eichenberger
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1.Teil
...Fortsetzung:
BEHAUPTETE PROBLEME
Wähler sind
überfordert
Häufig wird befürchtet, die
Bürger könnten durch die zahlreichen
Wahlen und Referenden in den verschiedenen FOCJ, in
denen sie Mitglied sind, überfordert werden
und mit politischer Abstinenz reagieren. Diese
Bedenken sind nicht gerechtfertigt.
Erstens ist eine tiefe Stimmbeteiligung kein
Problem an sich. Rationale Wähler wählen
nicht, solange sie mit den öffentlichen
Leistungen zufrieden sind und ihnen die zur Wahl
stehenden Alternativen ähnlich gut gefallen.
Wichtig ist vielmehr, dass Bürger mit
besonders intensiven Präferenzen und besonders
Unzufriedene wahrscheinlicher als andere an
Wahlgängen teilnehmen.
Zweitens ist es in einem Netz von FOCJ für
die Bürger vergleichsweise einfach, die
öffentlichen Leistungen zu beurteilen. Heute
ist es wegen der allgegenwärtigen
Quersubventionierung und der hochkomplizierten
staatlichen Rechnungslegungspraxis fast
unmöglich, die Leistungen und die Effizienz
der verschiedenen Gebietskörperschaften zu
beurteilen und zu vergleichen. FOCJ erbringen
hingegen die Aufgliederung in die verschiedenen
Dimensionen quasi automatisch.
Drittens muss die explizite Wahl- und
Stimmabstinenz in FOCJ mit der entsprechenden
impliziten Wahlabstinenz in traditionellen
Gebietskörperschaften verglichen werden. Dort
muss ein Wähler alle Leistungsdimensionen
simultan beurteilen, was kaum zu bewältigen
ist. Deshalb gehen in allgemeinen Wahlen viele
Leistungsaspekte völlig unter, das heisst, die
implizite Stimmbeteiligung für diese Aspekte
ist sehr tief.
Viertens wird die Stimm- und Wahllast durch
verschiedene neu entstehende Institutionen
gemindert. Beispielsweise können die Wahl- und
Abstimmungstermine verschiedener FOCJ
zusammengelegt werden, Delegierte können
gleichzeitig in mehreren FOCJ Einsitz nehmen, und
in Abstimmungen können die Bürger den
Empfehlungen der Partei ihres Vertrauens
folgen.
Es muss koordiniert
werden
Die Befürchtung, zwischen den verschiedenen
FOCJ werde zu wenig koordiniert, ist
unbegründet. Solange Externalitäten
zwischen FOCJ existieren, bestehen Anreize, die
FOCJ entsprechend anzupassen oder gar neue zu
gründen; insofern können FOCJ auch als
demokratische und wettbewerbliche
Koordinationsmechanismen interpretiert werden. Da
so aber nicht alle Externalitäten
internalisiert werden dürften, drängt
sich eine vergleichende Analyse auf: Auch zwischen
administrativen Einheiten in traditionellen
Gebietskörperschaften und zwischen
Gemeindeverbänden existieren
Externalitäten.
Die Frage lautet deshalb, in welchem System die
Anreize zu verhandeln grösser und die
Verhandlungskosten kleiner sind. Die Bediensteten
der verschiedenen Verwaltungsabteilungen und der
Gemeindeverbände haben schwache Anreize, ihre
Handlungen aufeinander abzustimmen. Eine effektive
Koordination schränkt nämlich ihren
Handlungsspielraum ein. Ausserdem sind sie wenig
oder gar nicht darauf angewiesen, die Wohlfahrt der
Bürger zu verfolgen.
Im Gegensatz dazu haben die Politiker eines
FOCUS starke Anreize, mit anderen Regierungen zu
verhandeln, weil ihre Wiederwahl und die
Erfolgschance ihrer Vorlagen in Volksabstimmungen
direkt von der Zufriedenheit der Bürger
abhängt. Solange also die Bürger mehr
Koordination wünschen, wird sie von den
FOCJ-Regierungen eher angeboten.
Lokale Steuern führen zu
ruinösem Steuerwettbewerb
Oft wird argumentiert, lokale Steuerautonomie
wie in FOCJ führe zu ruinösem
Steuerwettbewerb. Dieser zwinge die Gemeinden, die
Steuern immer weiter zu senken, so dass sie ihre
Aufgaben nicht mehr erfüllen könnten.
Diese Argumentation verkennt aber zwei
entscheidende Punkte:
- Steuern dienen zur Finanzierung
öffentlicher Leistungen. Die Bürger
wandern also nur ab, wenn das Verhältnis
von Leistungen und Steuern vergleichsweise
schlecht ist. Genau dann ist aber Abwanderung
nicht nachteilig, sondern lenkt die Bürger
in besonders effiziente und leistungsfähige
Körperschaften und zwingt die
Behörden, auf die Präferenzen der
Bürger einzugehen.
- Eine Vereinheitlichung der Steuern
verhindert ruinösen Wettbewerb zwischen
Kommunen nicht, sondern schafft ihn oft erst.
Wenn es Gemeinden verboten ist, Steuerzahler,
Firmen, Arbeitsplätze usw. durch tiefe
Steuern anzulocken, sind sie gezwungen, dies
mittels höheren Leistungen zu tun. Im
Unterschied zum Steuerwettbewerb verschlingt
dieser Leistungswettbewerb aber Ressourcen.
Überdies führt er tendenziell zu
grösseren Ungleichheiten. Während
tiefere Steuern allen Einwohnern zugute kommen,
werden die kommunalen Leistungen selten
allgemein erhöht. Viele besondere
Leistungen (zum Beispiel aussergewöhnliche
Infrastrukturleistungen, grosszügige
Baubewilligungsverfahren, Lohn- und
Ausbildungssubventionen oder der Verkauf von
gemeindeeigenem Land zu Vorzugskonditionen)
werden gezielt an einflussreiche Firmen und auch
an reiche Individuen vergeben.
VORAUSSETZUNGEN FÜR FOCJ
Funktionale Körperschaften entstehen dann,
wenn eine positive und eine negative Bedingung
erfüllt sind:
- Die Gründung und der Betrieb von FOCJ
muss verfassungsmässig gesichert sein. Die
gebildeten Einheiten müssen sich als
Jurisdiktionen mit (beschränkter)
Steuerhoheit etablieren können. Dieses
Recht wird von anderen Körperschaften, die
einen Teil ihres Steuersubstrats abgeben
müssen, bestritten werden.
Grundsätzlich sollte die Möglichkeit
bestehen, dass sowohl Individuen als auch
Gemeinden (als unterste politische Einheit) FOCJ
bilden können. Wer die Mitglieder sind,
hängt von der in Frage stehenden Funktion
ab. So ist durchaus denkbar, dass einzelne
Bürger einen FOCUS für eine
weiterbildende (staatliche) Schule gründen.
Für andere Politikbereiche, wie etwa den
öffentlichen Nahverkehr oder die
Wasserentsorgung, dürften sich in aller
Regel verschiedene Gemeinden zu FOCJ
zusammenfinden.
- Die bestehenden staatlichen Einheiten aller
Ebenen dürfen die Bildung von FOCJ nicht
blockieren. Dazu gehört insbesondere, dass
die Mitglieder eines neuen FOCUS, der eine
bestimmte staatliche Leistung übernimmt und
damit den bisherigen Leistungsanbietern zu
Einsparungen verhilft, steuerlich angemessen
entlastet werden. Die bisherigen Anbieter
müssen veranlasst werden, die Kosten des
Angebots offenzulegen und die Steuern der
FOCUS-Mitglieder entsprechend zu senken.
So wird die hier vorgeschlagene fünfte
Freiheit ihre grösste Wirkung dann entfalten,
wenn die existierenden Gebietskörperschaften
veranlasst werden, Steuerpreismenüs
festzulegen. Diese geben an, wieviel
Steuereinnahmen für eine bestimmte staatliche
Leistung aufgewendet werden. Solche Steuerpreise
können dann zur Berechnung der Steuersenkungen
für ganz oder partiell aus nur einzelnen
Funktionen austretende Körperschaftsteile
verwendet werden.
Steuerpreismenüs können auch
verhindern, dass ein zu geringer Steuernachlass
erfolgt, weil durch sie alle Leistungsbezieher -
und nicht nur die Austretenden - mit den
ausgewiesenen Steueranteilen belastet werden. Die
bisherigen Anbieter verlieren dadurch den Anreiz,
den Austretenden einen zu geringen Steuernachlass
zu gewähren, weil dadurch automatisch auch die
Steuereinkommen von den verbleibenden Bürgern
vermindert würden. Dadurch wird garantiert,
dass schon die potentielle Gründung von FOCJ
die bisherigen staatlichen Anbieter zwingt, sich
Rechenschaft über die präzisen Kosten der
Bereitstellung zu geben. Allerdings ist
vorauszusehen, dass die traditionellen politischen
Einheiten alle Buchhaltungskniffe verwenden werden,
um die neuen Konkurrenten fiskalisch zu
behindern.
ZUSAMMENFASSUNG
Immer öfter ertönt der Ruf nach
Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden. Dadurch
droht der kommunalpolitische Einfluss der
Bürger geschwächt zu werden. Diesen kommt
nämlich in Zweck- oder Gemeindeverbänden
- den heute dominierenden Kooperationsformen - kaum
mehr als eine Statistenrolle zu: Die wichtigen
Entscheidungsträger werden nicht von ihnen
gewählt, sondern durch mehrstufige
Delegationsverfahren bestimmt.
FOCJ (von Functional, Overlapping, and Competing
Jurisdictions) stellen eine radikale Alternative zu
Gemeindeverbänden und auch zu traditionellen
Gebietskörperschaften dar. Sie entwickeln sich
von unten, finanzieren ihre Tätigkeit selbst
und stärken den politischen Einfluss der
Bürger ganz entscheidend. Dank ihrer
Beschränkung auf einzelne Funktionen und ihrer
räumlichen Flexibilität können sie
positive Skalenerträge ausnützen und
spill-overs minimieren und somit öffentliche
Leistungen besonders kostengünstig anbieten.
Die Stärkung der demokratischen Instrumente
und der Austrittsoption hilft den Bürgern,
ihre Präferenzen auszudrücken und die
Regierung wirkungsvoll zu kontrollieren. Die
Steuerautonomie der FOCJ vermittelt starke Anreize,
die Mittel sparsam einzusetzen.
Die oft gegen FOCJ vorgebrachten Einwände
erweisen sich hingegen als nicht stichhaltig. Da
das Konzept der FOCJ prozessorientiert ist, darf
nicht vorgeschrieben werden, welche FOCJ in welcher
Form zu gründen sind. Entscheidend ist
vielmehr, dass die Bürger das Recht erhalten,
FOCJ zu gründen und selbst über ihre
Funktionen, Leistungen, geographische Ausdehnung,
genaue Entscheidungsmechanismen und Steuern zu
entscheiden. Diese fünfte, politische Freiheit
garantiert, dass FOCJ ein anpassungsfähiges,
bürgerorientiertes föderales Netz von
Regierungseinheiten bilden.
Mit FOCJ verwandte staatliche
Körperschaften existieren nicht nur in einigen
Schweizer Kantonen in Form von Schul- und anderen
Spezialgemeinden; insbesondere in den USA breiten
sie sich in Form der special districts rasch aus.
Auch ihr Erfolg belegt: FOCJ und die fünfte
Freiheit stellen keineswegs ein utopisches, sondern
ein realistisches und zukunftsweisendes Konzept
dar.
Das hier vorgestellte Konzept der FOCJ
beruht auf gemeinsam mit Bruno Frey
durchgeführten Forschungsarbeiten. Ich
danke ihm und Felix Oberholzer-Gee für ihre
hilfreichen Verbesserungsvorschläge zu
diesem Aufsatz.
Reiner Eichenberger, Dr. oec. publ., heute
Professor für Finanzwissenschaft an der
Universität Freiburg - unifr.ch/finwiss
- schrieb diesen Artikel als damaliger Privatdozent
und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für empirische Wirtschaftsforschung der
Universität Zürich.
LITERATUR
Das Konzept der FOCJ wird ausführlich
dargestellt in:
- Frey, Bruno S. / Eichenberger,
Reiner
- FOCJ: Creating a Single European Market
for Governments. International Review of Law
and Economics, 16. 1996, S. 315-327
- Eichenberger, Reiner
- Eine fünfte Freiheit für
Europa: Stärkung des politischen
Wettbewerbs durch FOCJ. Zeitschrift für
Wirtschaftspolitik, 45. 1996, S. 110-130
- Frey, Bruno S.
- Ein neuer Föderalismus für
Europa: Die Idee der FOCJ. Tübingen
1997
Eine Übersicht zur ökonomischen
Theorie des Föderalismus vermitteln:
- Bird, Richard M.
- Federal Finance in Comparative
Perspective. Toronto: Canadian Tax Foundation
1986
- Inman, Robert P./Rubinfeld, Daniel
L.
- The Political Economy of Federalism. In
Dennis C. Mueller (Hrsg.). Perspectives on
Public Choice. Cambridge 1997, S. 73-105
Die vorteilhaften Wirkungen direkter
Demokratie werden analysiert von:
- Cronin, Thomas E.
- Direct Democracy. The Politics of
Initiative, Referendum and Recall. Cambridge,
Mass. 1989
- Eichenberger, Reiner / Frey, Bruno
S.
- Bessere Politik durch Föderalismus
und direkte Demokratie
In: C. Hermann-Pillath / O. Schlecht / H. F.
Wünsche (Hrsg.), Marktwirtschaft als
Aufgabe. Stuttgart 1994, S. 773-787
- Frey, Bruno S.
- Direct Democracy: Politico-Economic
Lessons from Swiss Experience. American
Economic Review, 84. 1994, S. 338-342
- Feld, Lars P. / Savioz, Marcel R.
- Direct Democracy Matters for Economic
Performance: An Empirical Investigation.
Kyklos, 50. 1997, S. 507-538
Die Bedeutung von Abwanderung und
Widerspruch wird ausführlich thematisiert
von:
- Hirschman, Albert O.
- Exit, Voice and Loyalty. Cambridge, Mass.
1970 (Deutsche Übersetzung: Abwanderung
und Widerspruch: Reaktion auf Leistungsabfall
bei Unternehmen, Organisationen und Staaten.
Tübingen 1974)
Die Effizienz von special districts
wird untersucht von:
- Mehay, Stephen L.
- The effect of governmental structure and
special district expenditures. Public Choice,
44. 1984, S. 339-348
- Zax, Jeffrey S.
- The Effects of Jurisdiction Types and
Numbers and Local Public Finance. In: Harvey
S. Rosen (Hrsg.), Fiscal Federalism:
Quantitative Studies, Chicago 1988, S.
79-106
- Burns, Nancy
- The Formation of American Local
Governments: Private Values in Public
Institutions. New York 1994.
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