« letzter Beitrag

zweckgemeinde.ch

nächster Beitrag »

ARTIKEL, VORTRÄGE

 

ARTIKEL, VORTRÄGE


Aus: Reflexion 47 - Liberales Institut, Zürich - Oktober 2002 - S. 41-45

«Verwesentlichung» der Demokratie

Auswirkungen institutioneller Rahmenbedingungen und demokratischer Mitwirkung auf die staatliche Aufgabenerfüllung

Monique Weber-Mandrin und Jürg de Spindler*


Institutionen bestimmen die Qualität der staatlichen Aufgabenerfüllung

Hochleistungsstaat - Aufgabenwachstum - Staatsversagen sind Begriffe, welche bereits seit geraumer Zeit bei allen Staatsskeptikern Hochkonjunktur feiern.

Dies überrascht nicht aufgrund der Unübersichtlichkeit öffentlicher Aufgaben und der Überschuldung der öffentlichen Hand. Da eine vollumfängliche Privatisierung der Aufgabenerfüllung oder gar die Streichung öffentlicher Aufgaben jedoch an Grenzen stösst, muss nach zeitgemässen Lösungen gesucht werden.

Die Frage nach einer effektiven (bezogen auf die Zielerreichung) und effizienten (bezogen auf das Aufwand-Ertrag-Verhältnis) staatlichen Aufgabenerfüllung ist eng verbunden mit der Frage nach der Gliederung der Staatsorganisation: Sind die aus früheren Jahrhunderten stammenden Gebietsstrukturen (Kantone, Bezirke, Gemeinden) sowie die neueren Formen der Zusammenarbeit zwischen ihnen (Zweckverband, Konkordat usw.) geeignet, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen?

Hauptziel jeder Strukturreform sind starke Gemeinden, welche ihre Aufgaben selbständig und kompetent erfüllen können.

Von einer Revision der Formen der Zusammenarbeit zwischen Gemeinden sowie einer Gebietsreform erhoffen sich die Kantone zudem weitere erhebliche Vorteile, allen voran die Steigerung der Effizienz bei der Aufgabenerfüllung. Aber auch eine differenzierte Ausweitung der demokratischen Mitbestimmung, eine gezielte Stärkung des Föderalismus, eine Vereinheitlichung der sozialen Grundfunktionen oder eine Verbesserung des Minderheitenschutzes werden, je nach politischer Präferenz, zugunsten von Strukturreformen ins Feld geführt. Die Frage, ob die staatliche Aufgabenerfüllung mittels Strukturreform tatsächlich optimiert werden kann, hängt weitgehend von den konkret vorgeschlagenen Massnahmen und den kantonalen Gegebenheiten ab. Ausgangspunkt für die Antwort ist aus unserer Sicht die einzelne öffentliche Aufgabe, welche nach einem umfassenden «Äquivalenzprinzip» zu erfüllen ist: Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung müssen einander entsprechen.

Daraus ergeben sich institutionelle Voraussetzungen, auf die im folgenden näher eingegangen wird. Diese sind, im Vergleich zu Fragen betriebswirtschaftlicher Art, wie sie in NPM-Projekten im Vordergrund stehen, von strategischer Bedeutung und wären deshalb auf Verfassungsstufe zu definieren. Insofern liefert dieser Artikel auch einen Beitrag für die laufenden oder anstehenden Verfassungsrevisionen in den Kantonen Baselstadt, Graubünden, Luzern, Schaffhausen, St. Gallen, Waadt und Zürich.

Demokratie versus Technokratie

Während die organisatorischen Voraussetzungen der direkten Demokratie allgemeine Anerkennung geniessen, stösst deren konkrete Umsetzung immer wieder auf Kritik: Demokratische Gesinnung vermischt sich mit grosszügigem Vertrauen in technokratische Planungsmacht.

So sind z.B. Vertreter kommunaler Exekutiven oft vehemente Verteidiger direkt-demokratischer Gemeinden, zugleich aber auch Anhänger möglichst technokratisch organisierter Zweckverbände.

Warum sollen aber im Rahmen eines Zweckverbandes als weitverbreitete Plattform interkommunaler Aufgabenerfüllung die sonst offensichtlichen Nachteile (quasi-) zentralstaatlicher Staatsführung nicht auftreten?

  • Wenn dies mit der Kleinräumigkeit der Zweckverbände begründet wird, sollte konsequenterweise auch die normale Gemeindeorganisation baldmöglichst einem technokratischen System weichen, indem z.B. der Kanton die kommunalen Exekutiven ernennt.
     
  • Liegt der Vorteil der Zweckverbände darin, dass sie sich für unbedeutende Aufgaben oder koordinierende Rollen eignen, ist es fragwürdig, ob es sich beim Bau und Betrieb von Kehrrichtverbrennungsanlagen, Kläranlagen, Schulen, Spitälern usw. tatsächlich um derart sekundäre Fragen handelt.
     
  • Werden Zweckverbände einer Gemeindeorganisation deshalb vorgezogen, weil der Entscheidungsspielraum für die exekutive Behörde faktisch grösser ist, wird die direkte Demokratie desavouiert.

Dem Vorwurf der mangelnden demokratischen Grundlage von Zweckverbänden werden verschiedene kompensierende Kontrollmechanismen entgegengehalten: Erstens erhalten kommunale Rechnungsprüfungskommissionen Einblick in das Geschäft; zweitens ernennen gewählte Gemeindeexekutiven die Delegierten, die wiederum die Verbandsexekutiven bestimmen und kontrollieren; und drittens kann eine unzufriedene Mitgliedgemeinde jederzeit den Austritt beantragen.

Generell wird übersehen, dass der Entscheidungsspielraum eines Organs faktisch zunimmt, je mehr Stufen der Ernennung und damit der Rechenschaft zwischen dem Verantwortungsträger und den Bürgern als eigentliche «Auftraggeber» liegen. Genau das ist der zentrale Vorteil der direkt-demokratisch organisierten Gemeinde: Hier wird der laufende politische Entscheidungsprozess gemeinsam verfolgt, beeinflusst und schliesslich getragen. Parteien, welche um die Gunst der Wähler buhlen, bemühen sich um entsprechende Kontakt- und Diskussionsmöglichkeiten, über einzelne Beschlüsse kann schrittweise entschieden werden, und der Anreiz der Kontrolle ist gegeben durch die untereinander wetteifernden Parteien oder die anderen vielfältigen kommunalen Interessenorganisationen. Nicht zuletzt wird damit auch auf Interessenkonflikte hingewiesen, die wie immer zwischen Wählenden und Gewählten bestehen.

Aus diesem Grund ist die verbreitete sprachliche Gleichsetzung von Gemeinde, Bürger und Gemeindevertreter, zumindest in staatsrechtlichen Diskussionen, kritisch zu hinterfragen.

Korrekturbedarf

Das kurz beschriebene Beispiel der Zweckverbände will in erster Linie verdeutlichen, dass die Qualität der öffentlichen Aufgabenerfüllung (Effizienz und Effektivität) viel stärker von den institutionellen Rahmenbedingungen abhängt als angenommen. Je grösser der faktische Entscheidungsspielraum von Behörden ist, umso schlechter können deren Entscheide wirksam kontrolliert oder mitgestaltet werden. Dass dieser Mechanismus Politikern und Behörden bekannt ist, zeigt sich in den vielfältigen politischen Bemühungen, Entscheidungskompetenzen möglichst auf eine Behörde zu beschränken, um «ungestört» die richtigen Entscheide zu treffen. Dies kann z.B. Überinvestitionen, Fehlplanungen oder mangelhaften haushälterischen Umgang mit finanziellen Mitteln zur Folge haben.

Daraus stellt sich zum einen die Frage nach dem Umfang der zu delegierenden Kompetenzen und Ressourcen von einer auf die andere Organisationseinheit (z.B. von einer Gemeinde zu einem Zweckverband).

Zum anderen muss die damit verbundene Verantwortung zwischen den jeweiligen Entscheidungsträgern der Gliedeinheiten gleichartig sein. Dies ist aufgrund praktischer Erfahrungen im staatlichen und privaten Sektor am besten erreichbar, wenn die Leistungserbringer (die Exekutive) auf wirksame Weise durch die Leistungsnutzer (Bürger) kontrolliert werden. Dessen finanzielle Beiträge (Steuern) sollen möglichst in seinem Sinne eingesetzt werden.

Aus dieser Erkenntnis heraus ist folgender Schluss zu ziehen: Wer aufgrund der latenten Missbrauchsgefahr auf Behördenseite generell an die Vorteile der direkten Demokratie glaubt, trägt bei abweichender Haltung in konkreten Fällen die Beweislast, warum dieses politische System trotzdem zurückgestutzt werden soll. Sonst besteht die Gefahr, dass mit dem Bestreben, die Demokratie zu verwesentlichen, lediglich die Mitwirkungsmöglichkeiten seitens der Bürger reduziert werden, ohne dass dabei die Entscheide zufriedenstellender sind. Verfassungsrevisionen sollten deshalb als Chance genutzt werden, systemfehlerartige Widersprüche zu korrigieren. Grundlegende Elemente der direkt-demokratischen Gemeindeorganisation sollten auf andere Organisationsformen übertragen werden können (v. a. direkte Demokratie, Wahl der Behörden, Finanzierungsmöglichkeiten, während die Urversammlung kein zwingendes Erfordernis ist). So müsste die kommunale Aufgabenerfüllung im Rahmen einer Gemeinde oder eines Zweckverbandes den gleichen institutionellen Rahmenbedingungen unterstehen (siehe dazu die Diskussion über die Zweckgemeinde im Rahmen der Zürcher Verfassungsrevision).

Nur so ist das eingangs erwähnte Äquivalenzprinzip, Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung aufeinander abzustimmen, auch dort wieder anwendbar, wo es leise untergraben worden ist.

«Verwesentlichen»?

Ein in diesem Zusammenhang oft gehörter Einwand weist auf die Erlahmung politischer Entscheidungsprozesse durch demokratische Mitwirkungsinstrumente hin. Als Lösung wird die bereits erwähnte «Verwesentlichung» der Demokratie gefordert, welche die Mitwirkung der Bürger auf wichtigste Fragen beschränken will.

Dieses Anliegen ist einleuchtend und könnte tatsächlich die Entscheidungsverfahren verkürzen oder vereinfachen. Gut informierte und wohlgesinnte Behörden würden in eigener Kompetenz die Entscheide fällen, allenfalls unter Kontrolle anderer Behörden oder gemäss definierter Regeln. Die Frage, die sich damit stellt, ist die, nach welchen Kriterien zwischen «referendumswürdigen» und «nicht referendumswürdigen» Vorhaben zu unterscheiden ist. Theoretisch sind verschiedenste institutionelle Lösungen denkbar:

  • Normenhierarchie: Nur die höchsten Rechtsnormen (Verfassungsnormen) unterstehen dem obligatorischen Referendum; Gesetzesvorlagen unterstehen dem fakultativen Referendum, werden also nur dann einer Abstimmung unterworfen, wenn es die Bürger verlangen.
     
  • Entscheid je nach Aufgabenbereich: Der Entscheid, ob eine Vorlage einer Abstimmung zu unterbreiten ist, hängt vom betreffenden Aufgabenbereich ab (z.B. alle Vorlagen über Energiefragen oder über Sicherheitsfragen, hingegen keine Vorlagen über Verkehrsfragen).
     
  • Entscheid in Abhängigkeit des Aufgabenträgers: Dem Referendum werden nur noch Vorlagen unterstellt, welche von einer bestimmten Staatsebene (z.B. Gemeinden) erfüllt werden.
     
  • Finanzen: Die Höhe des finanziellen Aufwandes ist entscheidend für die Unterstellung unter das Referendum (Finanzreferendum).
     
  • Entscheid einer bestimmten Behörde (Parlament, Regierung, Gericht oder ein besonderer «Sachverständigenrat»): Die entsprechende Behörde entscheidet in eigener Kompetenz, ob eine Vorlage der Volksabstimmung unterworfen wird oder nicht.

Die Delegation einer Entscheidungskompetenz ist grundsätzlich mit einem Risiko verbunden, weil zugleich ein faktischer Spielraum mitgegeben wird. Dieser kann so weit gehen, dass der Behördenvertreter bei reinen Ermessensentscheiden recht ungebunden Positionen einnimmt.

Eine an Bürgerpräferenzen gebundene Delegation ist erschwert, weil in diesen Fällen keine klaren Verhaltensregeln vorab bestimmt werden können (siehe dazu das Prinzipal-Agenten-Problem in der ökonomischen Literatur).

Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass eine Selektion, die ausschliesslich von einer Behörde abhängt, die direkte Demokratie untergräbt und diese faktisch zu einer repräsentativen Demokratie macht. Der Unterschied zwischen den beiden Systemen liegt im Ausmass des Vertrauens, welches von den Bürgern den Politikern zugestanden wird: Je grösser es ist, umso unbedeutender ist das aufgeworfene Problem der «Verwesentlichung» der Demokratie. Die direkte Demokratie wird überflüssig, weil die Behörden die Interessen der Bürger exakt verfolgen. Besteht jedoch der Wunsch, zumindest optional die politischen Entscheide nachprüfen, kontrollieren oder sonstwie sanktionieren zu können, wird man die Bemühungen zur «Verwesentlichung» der Demokratie kritisch verfolgen. Der Effekt der direkten Demokratie liesse sich z.B. im Vergleich zwischen Gemeinde- und Zweckverbandorganisation bei der Erfüllung der gleichen Aufgabe aufzeigen.

Die Ausführungen zeigen, dass es zwischen «unverwesentlichter» direkter Demokratie und der repräsentativen Demokratie keinen dritten Weg gibt. Die direkte Demokratie wird erst dann schwerfällig, wenn politische Vorlagen erst einem «Referendumswürdigkeits-Test» unterzogen werden müssen, bevor sie für eine Abstimmung freigegeben werden. Um die dabei entstehende Doppelspurigkeit im politischen Entscheidungsprozess zu vermeiden, würde sich ein Übergang zur reinen repräsentativen Demokratie aufdrängen.

Die aus unserer Sicht einzig vertretbare Massnahme in Richtung einer «Verwesentlichung» besteht darin, auf das Instrument des obligatorischen Referendums zu verzichten. Das verbleibende fakultative Referendum gäbe den Bürgern weiterhin die Möglichkeit, unabhängig von einem Behördenentscheid in den politischen Entscheidungsprozess einzugreifen.

Da dies ein aktives Verhalten voraussetzt, dessen Erfolg auch von den organisatorischen oder logistischen Fähigkeiten der Bürger abhängt, sind die formellen Kriterien für das Zustandekommen des Referendums zurückhaltend zu definieren.

Andernfalls ist es aus demokratisch-systematischer Sicht immer noch besser, den Bürgern selber den Entscheid über die Wichtigkeit einer Vorlage zu überlassen, indem sie bei obligatorischen Referenden teilnehmen oder nicht.

Fazit

Die Ausführungen haben gezeigt, dass die institutionellen Rahmenbedingungen einen grossen, unterschätzten Einfluss auf die Qualität der staatlichen Aufgabenerfüllung haben. Des weiteren erweist sich eine «Verwesentlichung» der direkten Demokratie als nur in beschränktem Mass möglich, während weitergehende Vorschläge qualitativ sogar der repräsentativen Demokratie nachstehen. Eine fruchtbare Strukturreform muss die direkte Demokratie und den Föderalismus stärken. Zu diesem Zweck sind neue institutionelle Bedingungen zu schaffen, welche den politischen Entscheidungsträgern Anreize geben, die Vor- und Nachteile von Zentralisierung und Dezentralisierung abzuwägen. Auf diese Weise werden Entwicklungen hin zu Hochleistungsstaat, Aufgabenwachstum und Staatsversagen minimiert. Eine Verfassungsrevision muss deshalb zum Ziel haben, einerseits die Aufgabenträger stärker auf die Präferenzen der Bürger zu behaften und andererseits für alle kommunalen Aufgaben die gleichen institutionellen Rahmenbedingungen unabhängig von der Form des Trägers zu schaffen.

*Dr. iur. Monique Weber-Mandrin ist Mitarbeiterin bei Schmid / Heinzen / Humbert Rechtsanwälte in Zürich
Dr. oec. publ. Jürg de Spindler ist staatspolitischer Berater bei Hellfeier & de Spindler GmbH, Altendorf/Zürich


Weiterführende Literatur

Frey, Bruno S. und Eichenberger, Reiner
«The New Democratic Federalism for Europe», Edward Elgar, Cheltenham und Northampton, 1999
 
Kirchgessner, Gebhard / Feld, Lars P. / Savioz, Marcel R.
«Die direkte Demokratie: Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig, Helbing & Liechtenhand / Franz Wahlen, Basel / Genf / München 1999
 
Saladin, Peter
«Wozu noch Staaten? Zu den Funktionen eines modernen demokratischen Rechtsstaats in einer zunehmend überstaatlichen Welt», Bern, München und Wien, 1995
 
de Spindler, Jürg
«FOCJ - Ein Konzept zur Neuordnung der Zusammenarbeit öffentlichrechtlicher Gebietskörperschaften», Verlag Paul Haupt Bern, 1998
 

Weber-Mandrin, Monique

«Öffentliche Aufgaben der Kantonsverfassungen», Zürcher Studien zum öffentlichen Recht, Schulthess, Juristische Medien AG Zürich, 2001
  

deutsch

français

italiano

english

 


DOWNLOAD «Verwesentlichung» der Demokratie
(PDF, 490 Kb)

oben ^