ARTIKEL,
VORTRÄGE
Neue Zürcher Zeitung -
Zürich und Region - Mittwoch, 9.1.2002 Nr.6 S.
43
Die «Zweckgemeinde»
Ein Weg der sanften Anpassung bisheriger
Strukturen
Von Carmen Walker Späh und Jürg de
Spindler*
Im Verfassungsrat steht eine
Neugliederung des Kantons Zürich zur
Diskussion. Dabei geht es nicht nur um die
geographische Einteilung, sondern auch um
organisatorische Aspekte: Welche
Körperschaften (Gemeinden,
Zweckverbände, Bezirke,
Anschlussverträge) eignen sich für
welche Aufgaben? Wie wichtig sind die
demokratischen Instrumente? Nachfolgend wird ein
Vorschlag für eine sanfte Anpassung
präsentiert, die sich zwischen dem
Regionenmodell und dem Beharren auf dem Status
quo bewegt.
Die föderalistische Einteilung in Kantone
stellt einen Grundpfeiler des «Erfolgsmodells
Schweiz» dar und wird in ihrem
Innovationspotenzial oft unterschätzt. Gerade
weil dieses positive Merkmal mit einem dauernden
Anpassungsdruck bei der Erfüllung
öffentlicher Aufgaben einhergeht, gibt es
viele Kräfte, die sich dagegen wehren und den
Föderalismus teilweise in sein Gegenteil
umkehren: Statt sich den dezentralen
Gestaltungsmöglichkeiten zuzuwenden, erlahmt
das System durch aufwendige
Koordinationsbemühungen.
Gefahr für
Innovationsfähigkeit
Zwei Merkmale des klassischen Föderalismus
sind Ansatzpunkte für diese Schwächung
der Innovationsfähigkeit: Die feste
geographische Einteilung und die abschliessend
definierte Aufgabenverteilung zwischen den Ebenen.
Erstere wird dann zum Problem, wenn der optimale
Perimeter (geographische Bezugsgrösse) einer
einzelnen öffentlichen Aufgabe sich nicht mit
den historisch entstandenen Grenzen deckt
(Spillovers). Die zweite erschwert die
Übertragung einer bestimmten Aufgabe auf eine
sachgerechte (höher oder tiefer gelegene)
Ebene. Dies betrifft nicht nur die Bundes, sondern
auch die Kantonsebene: Die Abgeltung
zentralörtlicher Leistungen, finanzielle
Transparenz und demokratische Mitwirkung in
Zweckverbänden, die unterschiedliche
Qualität der kommunalen Leistungen, die
Mechanismen des Finanzausgleichs, die Verflechtung
der Aufgaben und Kompetenzen zwischen Gemeinden und
Kanton sind Beispiele für oft thematisierte
Probleme, die mit der Gliederung des Kantons direkt
zusammenhängen.
Stärkung der Kommunen als
Hauptziel
Das Modell von «Zweckgemeinden» zielt
auf eine Flexibilisierung der kantonalen Gliederung
ab. Analog zu den bereits heute bekannten Schul-
oder Kirchgemeinden würde eine neue
sachbezogene Zusammenarbeitsform auf kommunaler
Ebene geschaffen. Diese mildert die Nachteile der
bestehenden kleinräumigen Gemeindeeinteilung,
ohne dass die ganze Gebietsstruktur von Grund auf
neu überdacht werden muss.
Eine gut funktionierende interkommunale
Zusammenarbeit weist verschiedene Vorteile auf, die
dazu führen, dass die Aufgaben effizient,
effektiv und bürgernah erfüllt werden.
Zudem kann auf eine weiter gehende Zentralisierung
der Aufgabenerfüllung verzichtet werden; die
vorhandenen Ressourcen werden flexibel und
sachgerecht eingesetzt. Entlastend für den
Finanzausgleich wirken die grössere
Ausgleichsbereitschaft zwischen einzelnen Gemeinden
und die steigende Akzeptanz für die Nutzung
der Potenziale interkommunaler Kooperation.
Hauptziel jeder Strukturreform sind starke
Gemeinden, die ihre Aufgaben selbständig,
kompetent, effizient und den
Bürgerbedürfnissen entsprechend
erfüllen können. Dies bedeutet zugleich,
dass die direkte Demokratie und der
Föderalismus wirksamer werden müssen. Aus
diesem Grund wird eine neue institutionelle
Plattform vorgeschlagen, welche auf erprobten
Organisationselementen beruht.
Die sogenannte «Zweckgemeinde» soll
mindestens folgende Voraussetzungen
erfüllen:
- Sie verfügt über mindestens eine
klar definierte Aufgabe, wobei sich der
«optimale» Perimeter (geographische
oder personelle Bezugsgrösse) des
Trägers von Aufgabe zu Aufgabe
unterscheidet, damit Grössen und
Verbundvorteile genutzt werden können.
- Weiter sollte der neue Träger über
eigene legislatorische Kompetenzen in Verbindung
mit der notwendigen Finanztransparenz und einem
direkten Zugang zu Finanzmitteln
verfügen.
- Der neue Träger soll demokratische
Mindestanforderungen bezüglich politischer
Kontrolle und Mitwirkung erfüllen.
Notwendig sind das obligatorische Referendum
für grundlegende Fragen, das fakultative
Referendum für andere Fragen sowie das
Initiativrecht.
- Schliesslich soll er über einen eigenen
Perimeter auf personeller oder territorialer
Basis verfügen. Dieser sollte so definiert
sein, dass eine grösstmögliche
Kongruenz zwischen den politisch entscheidenden,
den finanziell tragenden und den die Leistungen
nutzenden Personen erreicht wird
(Äquivalenz).
Funktionalität und Tradition
Das Modell der flexiblen
«Zweckgemeinde» verbindet die
Funktionalität der bekannten
Zweckverbände mit der gesellschaftlichen
Bedeutung der klassischen Gemeinde. Letztere bietet
die Rahmenbedingungen, welche ein aktives
Engagement seitens der Bürgerinnen und
Bürger ermöglichen oder gar fördern,
so beispielsweise die Bürgernähe, die
Möglichkeit politischer Mitgestaltung und die
Nutzung von lokalem Knowhow. Diese Faktoren werden
in Föderalismusdiskussionen
vernachlässigt, obwohl sie wesentlich zu einer
effektiveren Aufgabenerfüllung beitragen.
Das Modell ergänzt somit das bisherige
System mit den «starren» Gemeinden und
dem Kanton. Letzterer kann weiterhin in Bezirke
aufgeteilt werden, die jedoch verstärkt die
Rolle von lediglich dezentralen
Verwaltungseinheiten des Kantons einnehmen sollen.
Gegenüber einem System mit Regionen, die als
neue eigenständige Ebene zwischen Gemeinden
und Kanton geschaffen werden sollen, entfällt
die Gefahr, dass die öffentliche Verwaltung
aufgebläht wird und dass kommunale Aufgaben
unfreiwillig zentralisiert werden. Vielmehr
können im Rahmen problemspezifischer
Plattformen regional unterschiedliche
Bedürfnisse besser gedeckt werden.
Schul- und Kirchgemeinden als
Vorbild
Dass die Idee der «Zweckgemeinde» gar
nicht so theoretisch ist, zeigt das Beispiel der
Schul und Kirchgemeinden: Hier konnten schon lange
Erfahrungen mit funktional ausgerichteten Gemeinden
gesammelt werden. Solche Körperschaften
stärken die kommunale Ebene. Denn die
Kompetenz auf lokaler Ebene bleibt bewahrt oder
wird sogar aufgewertet. Der Zwang zu
Gemeindefusionen wird spürbar gemildert, ohne
dass Synergiepotenziale ungenutzt bleiben. Die
Gemeinde entscheidet frei, ob sie Kompetenz auf die
regionale oder untergeordnete Ebene verlagern will.
Einfachere Formen der kommunalen Zusammenarbeit
bleiben selbstverständlich weiterhin
möglich, wie zum Beispiel
öffentlichrechtliche Verträge oder die
Zweckverbände für eine technische
Zusammenarbeit innerhalb eines
Aufgabenbereichs.
* Carmen Walker Späh ist
selbständige Rechtsanwältin und
Verfassungsrätin
Jürg de Spindler ist staatspolitischer
Berater der Firma Hellfeier & de Spindler
GmbH, Altendorf.
© 2002 Neue Zürcher
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